Obskure Linguistik und Semiotik

Sehr geehrtes Forum,

vor einigen Jahren bin ich über folgende Website gestolpert, betreut von Dr. Alfred Toth, einem Schüler von Max Bense: http://www.mathematical-semiotics.com/
Darauf finden sich über 26.000 Artikel und Bücher, die ich als Versuch der Begründung einer "formalen" bzw. mathematischen Semiotik deute. Der Autor wird nicht müde, regelmäßig neue Artikel hochzuladen, die sich mit Themen wie Logik, Polykontexturalität (Gotthard Günther), Semantik und eben Semiotik befassen. In seinen Artikel finden sich lange, komplexe Diagramme und Formeln, die sich mir nur schwer erschließen. Trotzdem machte mich diese Seite neugierig, weshalb ich auf eure Meinung gespannt bin. Lässt sich die Peircesche Semiotik mithilfe einer heterodoxen Logik wie der Polykontexturalitätstheorie formalisieren, ja sogar mathematisch begründen und was lässt sich aus der Website schließen? Handelt es sich um ein noch unentdecktes Genie der Sprachphilosophie und Linguistik oder um einen Crank (um es dramatisch zu formulieren)?

Liebe Grüße

Interessant. Ist mir nie begegnet.
Stilistisch nervt es mich ziemlich, aber streng genommen müsste ich mich damit befassen.
"Peircesche Semiotik mithilfe einer heterodoxen Logik wie der Polykontexturalitätstheorie formalisieren, ja sogar mathematisch begründen" 
Ich frage mich, was "mathematisch begründen" heißt. Ich würde vorziehen, dem alltagssprachlichen Gebrauch von "Zeichen" durch Explikationsversuche nahe zu kommen. Dazu dürfte Peirce nur einen Teil beigesteuert haben.  Und ich habe zurzeit überhaupt kein Interesse an Peirce, wenn auch an einer Explikation von "Zeichen".

Nachdem ich mich durch einige Artikel und Bücher des Herrn Toth durchgeklickt habe, glaube ich langsam zu verstehen, was sein Programm sein soll; er will ein Grundlagenproblem lösen. Begründet die Logik die Semiotik oder umgekehrt und begründet die Logik die Mathematik oder umgekehrt? Nach ihm lassen sich Semiotik, Logik und Mathematik auf eine gemeinsame "Tiefenstruktur" zurückführen, der er durch Anwendung mathematischer Methoden auf die Semiotik nachgeht. Das ist dann seine mathematische Semiotik; ob es eine Explikation ist, bleibt offen. Er schreibt: "Wie die Mathematik, so kann man auch die Semiotik entweder mengen- oder kategorietheoretisch begründen." Dabei stützt er sich ganz explizit auf den Zeichenbegriff von Peirce und wendet sich gegen die Auffassung von Saussure. Er versucht, Linguistik durch "ein Modell einer kategorietheoretischen Topologie" zu betreiben und die Unzahl (!) an kryptischen Artikeln auf seiner Website sind offenkundig der Versuch, dies zu begründen. Aber er geht sogar noch weiter. Er spricht davon, die gesamte mathematische Logik mithilfe der Semiotik zu begründe. Hätte er doch mal einen Kurs in Didaktik besucht anstatt 26.000 Artikel auf eine obskure Website zu schmeißen...

Mir scheint, dass eine gewisse Tradition in der Semiotik gibt, die von Peirce zu Gotthard Günther, Max Bense und Alfred Toth reicht. Max Bense und Peirce sind ist ja alllgemein bekannt, der Rest dagegen ist wie unsichtbar. Von solchen linguistischen Bemühungen hatte ich bis dahin noch nie gehört, das macht natürlich neugierig. Gibt es ähnliche Strömungen in der Semiotik?

Ich frage mich, wie viel von dem automatisch generiert ist. Und ich frage mich, warum er nur im Selbstverlag "publiziert".
Die unter "Linguistik" geposteten Sachen sind auch eigenwillig, um es vorsichtig zu sagen.
Also im Großen und Ganzen würde ich sagen: sehr suspekt.

(26.08.2023, 12:11:41)janwo schrieb: eigenwillig, um es vorsichtig zu sagen.

Ich weiß - gerade bei 'Semiotikern' - häufig nicht, ob meine Verweigerung nur Lesefaulheit oder doch besser begründet ist. Es kann natürlich sein, dass einem so manches Genie durch die Lappen geht. Aber, verdammt noch mal, das ist doch ideal: wenn man als Autor dem Leser mehr oder weniger die Wahrheitsbedingungen seiner Sätze gleich mitliefert.  Anstatt einfach immer weiterzuschwafeln.

Inhaltlich kann ich dazu nichts sagen, da ich keinen der Texte gelesen habe. Bei dem Autor handelt es sich jedenfalls vmtl. um:

https://d-nb.info/gnd/1026269814

Bei den dort verknüpften Publikationen sieht man, dass er auch in wissenschaftlichen Fach- und Universitätsverlagen publiziert hat. Ich konnte nicht herausfinden, wo er eine Professur – er führt ja ein Prof. im Namen – hat (die University of Arizona wäre nahe liegend, aber da konnte ich im ersten Moment nichts finden).

Die Seite wirkt auf mich wie eine Mischung aus Blog-in-PDF-Form, Handout-Sammlung und privatem Pre-Print-Verzeichnis.

Ein sehr ausführliches Pre-Print-Verzeichnis... Ich habe ihm eine Mail geschrieben und gefragt, weshalb er seine semiotischen Werke nicht in Fachzeitschriften publiziert und ob er mir evtl. Papers zur Einführung in sein Denken bereitstellen kann. Ich kann mich auch erinnern im Subreddit r/badlinguistics mal einen Verriss seiner linguistischen Arbeiten gelesen zu haben.

(27.08.2023, 12:28:05)Semioticianfromhell schrieb: Ich kann mich auch erinnern im Subreddit r/badlinguistics mal einen Verriss seiner linguistischen Arbeiten gelesen zu haben.

Das könnte natürlich auch schlichtweg daran liegen, dass die sein Oeuvre da bei Reddit nicht für Linguistik halten.